Mit Erdgas aus Aserbaidschan will die EU ihre Versorgungssicherheit erhöhen

Im Jahr 2020 soll der Südliche Erdgaskorridor fertig sein. Dann wird Südeuropa erstmals mit Erdgas aus dem Kaspischen Raum beliefert. Auch wenn es zunächst um relativ geringe Mengen geht, unterstützt die EU den Pipelinebau nachdrücklich. Auch mit Blick auf Russland geht es ihr darum, Europas Energieversorgung zu diversifizieren.

Seit über einem Vierteljahrhundert sucht Europa nach Wegen, Erdgas aus dem Kaspischen Raum zu beziehen. Gleich nach dem Untergang der Sowjetunion nahmen die EU-Kommission, nationale Regierungen und europäische Energieunternehmen Kontakt zu den unabhängig gewordenen Staaten Eurasiens auf in der Hoffnung, dass Energielieferungen aus den rohstoffreichen Staaten Aserbaidschan, Turkmenistan, Kasachstan und Usbekistan zur Diversifizierung und Absicherung der europäischen Energieversorgung beitragen würden. Am Anfang hatten solche Projekte noch keine spezifische Bezeichnung; die Zahl der Beteiligten, die Konstellationen und Interessen änderten sich stetig, auch noch, als sich „Nabucco“ als Begriff für eine solche Südschiene etablierte. Schließlich entwickelte die EU das Konzept des „Southern Gas Corridor“ (SGC); dieser Südliche Erdgaskorridor ist nun fast fertig. Damit wird Aserbaidschan in der Energieproduktion zum wichtigsten Partner Europas im Südkaukasus. 2020 sollen die Erdgaslieferungen aus dem Shah-Deniz-II-Feld beginnen. Für die weitere Zukunft kommen auch Kasachstan und Usbekistan als Lieferantenländer infrage, wenn sie über den Südlichen Erdgaskorridor an das Netz angeschlossen werden. Dafür sind allerdings beträchtliche Investitionen notwendig.

Außen vor: Turkmenistan

Weitgehend aus dem Spiel ist Turkmenistan, auf das sich anfangs das Interesse der Europäer konzentriert hatte. Das Land war der zweitgrößte Erdgasproduzent der UdSSR und ist heute wichtigster zentralasiatischer Erdgaslieferant Chinas; es verfügt über die viertgrößten Gasreserven der Welt. Nach 1991 zeigte die turkmenische Führung Interesse daran, die Absatzmärkte zu diversifizieren. Eine erste Pipeline wurde durch den Norden des Iran in die östliche Türkei geplant, in die auch iranisches Gas hätte eingespeist werden können.

Daher unterstützte der Iran diese Bestrebungen. Eine andere, von Turkmenistan seit 1992 geplante Route war der Bau einer Pipeline durch das Kaspische Meer mit möglichem Verlauf über aserbaidschanisches, iranisches oder russisches Territorium. Die Kosten der Projekte variierten zwischen 4,5 und 5,6 Milliarden Dollar. Doch 1995 verschärfte US-Präsident Bill Clinton wegen des iranischen Atomprogramms die Sanktionen gegen Teheran. Seitdem waren ausländische Investitionen in den iranischen Energiesektor praktisch unmöglich – und der Iran fortan von weiteren Projekten der Energieinfrastruktur ausgeschlossen. Der Bau einer Pipeline durch das Kaspische Meer erwies sich aufgrund des ungeklärten rechtlichen Status, ob es sich um ein Binnenmeer oder internationales Gewässer handelt, als nicht umsetzbar. Derzeit sind Russland und der Iran gegen das Projekt. Zudem gibt es zwischen Aserbaidschan und Turkmenistan Streit um Vorkommen. Die Politisierung hat Engagements bei Pipelinebauprojekten deutlich erschwert. Richard Morningstar, ehemaliger US-Botschafter in Aserbaidschan und früherer Sondergesandter des US-Außenministeriums für eurasische Energieangelegenheiten, bezweifelt, dass die Transkaspische Erdgasleitung jemals realisiert werde. Genauso wenig ist eine Flüssiggasverbindung von Turkmenistan eine Option, da die Investitionskosten zu hoch sind. Gescheitert ist auch das von der EU-Kommission lange favorisierte Nabucco-Projekt, das 31 Milliarden Kubikmeter (31 bcm) Gas im Jahr nach Europa bringen sollte. In Brüssel wurde es als Schlüssel für die Diversifizierung sowohl der Bezugsquellen als auch der Importinfrastruktur angesehen. Doch gerade die Vielzahl der Lieferländer, zu denen neben Aserbaidschan und Turkmenistan auch die irakischen Kurdengebiete und Iran gehören sollten, machte das Projekt politisch und wirtschaftlich schwierig. Die Entscheidung des aserbaidschanischen Shah-Deniz-II-Konsortiums, eine Pipelineverbindung durch die Adria zu favorisieren, entzog Nabucco schließlich ganz den Boden.

Fokus auf Aserbaidschan

Nun also wird Aserbaidschan Europas Hauptpartner für Energielieferungen aus Eurasien. Baku tritt sowohl als Erdgasproduzent als auch als Erbauer und Betreiber des Pipelinenetzes auf, wobei der britische Energiegigant BP die Führungsrolle bei der Erdgasproduktion im Shah-Deniz-IIFeld und beim Pipelinebau nicht nur in Aserbaidschan, sondern auch in Georgien und der Türkei innehat. Die Verbindung reicht bis 1994 zurück, als die aserbaidschanische Regierung im „Vertrag des Jahrhunderts“ die Erdöl- und Erdgasförderung in die Hände ausländischer Energiefirmen legte, vor allem in die von BP. So wurde der heimische Energiesektor mit neuester Technik entwickelt und eine nationale Erdöl- und Erdgasgesellschaft, die SOCAR, aufgebaut. Um die staatliche Unabhängigkeit zu festigen, suchte das Land in Sachen Energieförderung den Kontakt zu Unternehmen nicht nur aus Russland, sondern auch aus den USA, Westeuropa, der Türkei und dem Iran. Durch die westliche Ausrichtung sollte die von Aserbaidschan befürchtete Dominanz Moskaus unterbunden werden. In der Zwischenzeit hat sich das Verhältnis zum Nachbarland Russland aber positiv entwickelt, trotz einiger Spannungen im Zusammenhang mit der Auflösung der früher vom russischen Militär genutzten Radaranlage im aserbaidschanischen Gabala. Die außenpolitische Dimension der Energieproduktion für Aserbaidschan zeigt sich auch im Verhältnis zur Türkei und Europa. 2011 bot die Türkei an, die gesamte Exportmenge in Höhe von 16 bcm im Jahr aus dem Shah-Deniz-II-Feld unter Vertrag zu nehmen. Doch die Führung in Baku bestand trotz hoher eigener Baukosten darauf, einen Teil des Erdgases in die EU zu liefern. Ein Hauptgrund dafür war, die armenische Besetzung der Region Berg-Karabach, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, auf die politische Agenda der EU-Staaten zu setzen. Aus Sicht Bakus hat der Erdgasexport nach Europa also eine eher politische als wirtschaftliche Bedeutung. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass das Kalkül der aserbaidschanischen Führung aufgeht und sich die EU-Kommission und die meisten Mitgliedstaaten in Sachen Berg-Karabach eindeutig positionieren. Davon zeugt auch die weitere Annäherung zwischen Brüssel und der armenischen Regierung in jüngster Zeit. Trotzdem ist Aserbaidschan wichtig für die EU. Das Land ist nicht nur wegen seiner Erdgasvorkommen interessant, sondern auch als bedeutender Erdöllieferant für Deutschland, die Tschechische Republik und weitere Staaten Mittel- und Osteuropas, die bis zu 40 Prozent ihres Bedarfs aus dem südkaukasischen Land beziehen. Dazu dienen Erdölleitungen, die über georgisches Territorium an die Schwarzmeer-Küste führen sowie die 2005 in Betrieb genommene Pipeline Baku–Tiflis–Ceyhan, die an der türkischen Mittelmeer-Küste endet. Schließlich ist Aserbaidschan auch ein Transitland für Erdöl aus Kasachstan und den anderen zentralasiatischen Staaten und nimmt somit eine wichtige geostrategische Rolle ein.

Drei Pipeline-Abschnitte

Der eigentliche Südliche Erdgaskorridor besteht aus drei Teilabschnitten: der Südkaukasus-Pipeline (SCP), die durch Georgien führt und 2006 in Betrieb ging, sowie der Transanatolischen Pipeline (TANAP) und der Transadriatische Pipeline (TAP), die dieses Jahr beziehungsweise 2020 eröffnet werden sollen. Der Bau der Südkaukasus-Erdgasleitung erfolgte parallel zur Errichtung der Baku–Tiflis–Ceyhan-Pipeline; sie durchbrach erstmals das russische Leitungsmonopol aus dem postsowjetischen Raum. Die SCP beginnt südlich von Baku und führt über knapp 700 Kilometer durch Georgien bis zur Grenze mit der Türkei. Ihre Kapazität wird derzeit auf 25 bcm im Jahr erweitert, um Aserbaidschans Rolle als Erdgasexporteur zu stärken. Ab der türkischen Grenze wird das Erdgas durch die 1850 Kilometer lange Transanatolische Erdgasleitung weitertransportiert. Die TANAP soll in mehreren Erweiterungsstufen eine Kapazität von 31 bcm im Jahr erreichen; davon werden sechs bcm auf dem türkischen Energiemarkt verbleiben. Der Aufsichtsrat der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) genehmigte im Oktober 2017 einen Kredit in Höhe von 500 Millionen Dollar zur Fertigstellung der TANAP. Für die Türkei hat die Pipeline eine enorme geopolitische Bedeutung: Sie ist ein wichtiges Element des türkischen „Energiebrücke“-Konzepts. Als „gas hub“ für Europa könne Ankara stärkeren Einfluss auf die Brüsseler Politik nehmen, lautet das türkische Kalkül. Außerdem festigt die TANAP die historisch engen Beziehungen zu Aserbaidschan. Der dritte und letzte Abschnitt des SGC ist die Transadriatische Erdgasleitung TAP, die an der türkisch-griechischen Grenze mit der TANAP verbunden wird und durch Griechenland, Albanien und die Adria bis nach Italien führt, mit einer Kapazität von zehn bcm. Die Baukosten sind auf 4,5 Milliarden Dollar veranschlagt, die Fertigstellung für 2020 geplant. Die Europäische Investitionsbank (EIB) will noch in diesem Jahr entscheiden, ob das TAP-Projekt einen Kredit von zwei Milliarden Euro erhält. Eine Milliarde Kubikmeter Gas sind für Bulgarien und Griechenland bestimmt; dafür wird ein Inter-Connector nach Bulgarien gebaut. Die restlichen neun bcm des aserbaidschanischen Erdgases gehen nach Italien. In Sachen Südlicher Erdgaskorridor verlaufe alles nach Plan, erklärte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew am 8. November 2017: „Die Projektumsetzung der Shah-Deniz- II-Lagerstätte liegt bei 98 Prozent. Die Pipeline, die unser Gas nach Georgien pumpen wird, ist zu 98 Prozent fertiggestellt. Die TANAP ist zu 82 Prozent und die TAP zu 53 Prozent fertig.“ Zehn Tage später bekräftigte die EU-Kommission ihre Unterstützung für das Projekt. Nach einem Treffen mit dem aserbaidschanischen Energieminister Parviz Schabazow in Brüssel äußerte sich der für die Energieunion zuständige Vizepräsident der Kommission, Maros Sefcovic, entsprechend. Er betonte, dass der Südliche Erdgaskorridor für die Energiesicherheit Europas wichtig sei. In einer Videoansprache für die internationale Konferenz „Turkmenistans Erdöl und Erdgas 2017“ stellte der EU-Kommissar Anfang November zudem eine Erweiterung auf andere Staaten Zentralasiens in Aussicht. Nun könnten die lange diskutierten Gaslieferungen aus der Kaspischen Region nach Europa endlich Wirklichkeit werden.

Russische Konkurrenz

Russland verfolgt diese Entwicklungen sehr aufmerksam und plant eigene Pipelineverbindungen in die Türkei und nach Südosteuropa. 2007 kündigte der russische Erdgaskonzern Gazprom den Bau von South Stream an, einer Pipeline, die russisches Gas durch das Schwarze Meer nach Bulgarien und von dort in südlicher Richtung weiter nach Griechenland und Italien sowie in nördlicher Richtung nach Serbien, Ungarn, Slowenien und Österreich transportieren sollte. Mit 63 bcm hätte South Stream im Vergleich zum Konkurrenzprojekt Nabucco über die doppelte Transportkapazität verfügt. Das Projekt wurde 2014 aufgrund einer ablehnenden Haltung Bulgariens eingestellt, auf die die EU-Kommission gedrängt hatte. Brüssel missfiel unter anderem Gazproms Doppelrolle als Produzent und Netzbetreiber. Als Nachfolgeprojekt plant Gazprom nun die Pipeline Turkish Stream. Mit einem Strang soll sie zuerst nur den türkischen Markt beliefern, später ergänzt durch einen zweiten, der auf den südosteuropäischen Markt zielt und im österreichischen Baumgarten anlandet. Diesen Endpunkt hat aber langfristig auch das Shah-Deniz II-Konsortium im Visier. In Südosteuropa zieht man beide Projekte in Betracht und unterstützt sie, da Russland aller Voraussicht nach deutlich weniger Erdgas über die Ukraine liefern wird, sobald die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 Ende 2019 in Betrieb geht. Über die Ostsee würden dann zusätzliche 55 bcm pro Jahr in die EU gelangen. Russland bliebe der mit Abstand wichtigste Lieferant, gefolgt von Norwegen. Zugleich würde die Rolle Deutschlands als nord-westeuropäisches Gasverteilungszentrum gestärkt. Der Südliche Erdgaskorridor ist mit einer Exportmenge von neun bcm pro Jahr, die in Italien ankommen sollen, dagegen vergleichsweise klein dimensioniert; daran würden auch Erweiterungen allenfalls auf lange Sicht etwas ändern. Dennoch wird die EU-Kommission weiterhin auf den SGC setzen und die Erdgaslieferungen aus Russland um Importe aus der Kaspischen Region erweitern. Auf diese Weise kann sie für eine Diversifizierung der Erdgasimporte sorgen. Das ist speziell für die Staaten Südosteuropas relevant und wird langfristig für Versorgungssicherheit und günstige Preise beim fossilen Energieträger Erdgas sorgen.

Quelle: Matthias Dornfeldt / IP • März / April 2018